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Tomcat1960
Gast
Eigentlich wollte ich nicht auch noch mit russischen Uhren anfangen. Eigentlich.
Denn eigentlich weiß ich gar nicht, wo meine Abneigung gegen russische Armbanduhren herrührt - vielleicht, weil meine Mutter, die in der sowjetischen Besatzungszone herangewachsen war, sich noch an das "Zappzarapp" der russischen Soldaten erinnerte, wenn sie jemanden mit einer Armbanduhr sahen. Vielleicht auch, weil ich im zarten Alter von vierzehn Jahren beim Besuch meiner Großmutter in der damaligen DDR mal eine gut laufende Timex gegen irgendeine schnarrende Russenzwiebel mit zwei Kronen eingetauscht habe, deren Glas alsbald herausfiel und die auch sonst ziemlich schnell ein Fall für die Tonne war. Vielleicht auch, weil russische Technik im Ruche stand, sehr primitiv zu sein (wenn auch sehr robust.) Und ziemlich sicher, weil ich mich an den fabrikneuen Poljot-Flieger-Chronographen mit (russischen) Papieren erinnere, den mir ein fliegender Händler 1990 am Brandenburger Tor für zehn Mark veräußerte (und der, ich muss es zugeben, immer noch läuft, wenn auch ziemlich schlecht.)
Mit einem Wort: ich mochte russische Uhren nicht.
Aber ich habe nun mal angefangen, Armbandwecker zu sammeln, und wenn interessante Technik auch noch so schön verpackt daherkommt wie dieser Poljot Armbandwecker, dann fällt es mir sehr schwer, stark zu bleiben:

Außerdem ändern nur Narren und Esel ihre Meinung nicht, und es sind hier im Forum schon viele russische Uhren vorgestellt worden, deren Aussehen keinen Vergleich mit irgendeiner West-Uhr zu scheuen braucht. Also begann ich umzudenken.
*
Michael Philip Horlbeck, Autor zahlreicher Uhrenbücher, bezeichnet im Untertitel seines Standardwerkes über Armbandwecker diese in milder Untertreibung als "unterschätzte Komplikation". In der Tat stehen sie im Schatten ihrer viel glamouröseren Schwestern - Chronographen etwa, Mondphasenuhren oder Uhren mit prominenter Datumsanzeige, womöglich gar noch mit Angabe des Wochentages und einer Anzeige, ob es Tag oder Nacht ist. All jene Komplikationen zeichnet aus, dass sie sichtbar sind - sie prägen häufig die Gesichter der Uhren, die mit ihnen ausgestattet sind, und zieren sie in der Regel.
Ganz anders der Wecker - abgesehen von einem weiteren Zeiger, der auf die Weckzeit weist, ...

... und häufig einer weiteren Krone, die den Aufzug und das Stellen des Weckers bewerkstelligt, ...

... weist wenig auf die Weckerkomplikation hin.
Andererseits gibt es kaum eine Komplikation mit größerem praktischem Nutzen: Chronographen werden heute vielleicht mal zum Eierkochen benutzt, oder wenn man aus Langeweile die Geschwindigkeit des Fahrzeugs stoppen möchte, mit dem man unterwegs ist, das Datum (und den Wochentag) kann man bequem am Wandkalender ablesen, und wohl nur Hobby-Astronomen werden wirklich Interesse an der aktuellen Mondphase haben - aber die wissen so etwas eh aus dem Eff-eff. Einen Wecker hingegen kann man immer gebrauchen - um morgens pünktlich aufzuwachen, auch wenn man auf Reisen ist, ohne sich auf einen möglicherweise nachlässigen Weckdienst verlassen zu müssen, oder um einen Termin nicht zu vergessen oder die Einnahme wichtiger Medikamente. Es ist mit zahlreichen Reiseweckern in allen möglichen Klapp-Etuis versucht worden, diesem Bedürfnis des Reisenden Rechnung zu tragen, aber so konsequent wie mit dem Armbandwecker ist es weder vorher noch seitdem befriedigt worden.
Was klingt wie ein Werbetext für einen der Armbandwecker aus der Blütezeit dieser Komplikation - den Fünfziger- und Sechzigerjahren - soll ein wenig Rückbesinnung auf dieses goldene Zeitalter des Uhrenbaus erlauben, als wir nicht nur Uhren hatten, sondern auch Zeit. Heute nutzen wir elektronische Helferlein für alle möglichen Zwecke, aber es wird zunehmend unklar, ob uns ihr Einsatz wirklich frommt, oder ob wir nicht vielmehr ihre Sklaven geworden sind - permanent erreichbar, stets in Eile, gequält von Magengeschwüren und der Angst, etwas zu verpassen.
Vor diesem Hintergrund wächst ein neues, zartes Pflänzchen in meiner Uhrensammlung heran - Armbandwecker. Im Folgenden möchte ich Euch meine neueste Errungenschaft zeigen, die mich selbst auf's höchste überrascht hat, aber davon gleich mehr.

Zunächst möchte ich, wie üblich, ein paar Worte zur Technik verlieren. Ein Wecker zeichnet sich dadurch aus, dass er zwei Uhrwerke besitzt: zum Einen das übliche Uhrwerk, das den Antrieb der Zeiger besorgt, zum Anderen das Weckwerk, dessen Aufgabe darin besteht, einen Hammer gegen ein Läuteorgan zu schlagen. Bei unseren Nachttischweckern ...

Quelle: Wikipedia
... besteht dieses aus einer oder zwei mehr oder weniger prominenten Glocken, aber in Armbandweckern steht dafür kein Platz zur Verfügung. Deshalb benutzen ihre Designer entweder den Gehäuseboden selbst oder einen eigenen Resonanzboden, was den Vorteil hat, dass die Lautstärke des Signals nicht gedämpft wird, wenn man die Uhr trägt. Beide Lösungen haben den Nachteil, dass der Schwingkörper nicht frei schwingen kann. Mehr als ein mehr oder weniger lautes Schnarren bringen sie daher nicht zustande. Einige wenige Armbandwecker benutzen deswegen eine frei schwingende Tonfeder oder eine flache Glocke, auf der der Hammer ein glockenartiges Geräusch erzeugen kann.

(Bild aus: [1])
Der Hammer oder "Schläger", der das Geräusch erzeugt, muss in eine hin- und herschwingende Bewegung versetzt werden. Diesem Zweck dient das Sternrad, das in seiner Funktion etwa dem Hemmungsrad des Uhrwerkes entspricht, in welches der Anker eingreift. Genau wie dort setzt das Sternrad die kreisförmige Bewegung also in die Bewegung eines "Pendels" um, an dessen Ende der Schläger sitzt.

(Bild aus: [1])
Seine Energie bezieht ein mechanisches Weckwerk aus einer Aufzugsfeder. Bei den meisten Armbandweckern ist diese in einem separaten Federhaus untergebracht, das über eine zweite Krone aufgezogen wird. Diese Lösung bietet den Vorteil, dass der Gang des eigentlichen Uhrwerks unbeeinflusst bleibt. Ihrem Hauptnachteil des größeren Platzbedarfes wichen die Designer einiger Weckerwerke dadurch aus, dass sie das Weckwerk vom (einzigen) Federhaus antreiben lassen.
Dafür, dass der Wecker nicht ständig klingelt, sorgt eine Blockiervorrichtung, die den Weckmechanismus am Ablaufen hindert: ein Hebel oder Stift wird unter Federkraft entweder in das Sternrad eingerückt oder gegen den Arm des Schlägers gedrückt. Diese Blockiervorrichtung wird zusätzlich mechanisch blockiert, wenn der Alarm "abgestellt" wird.

(Bild aus: [1])
Ein Wecker macht natürlich nur Sinn, wenn er zu einer voreingestellten Zeit weckt. Diesem Zweck gilt die Auslösevorrichtung, die Uhr- und Weckwerk miteinander verbindet. Sie besteht in der Regel aus zwei Scheiben - dem Stundenrad und dem Einstellrad für die Weckzeit. Das Stundenrad dreht sich gegen das Einstellrad, auf dem gefederte Nocken angeordnet sind. Zum Auslösezeitpunkt schnappen diese Nocken in entsprechende Aussparungen des Stundenrades ein. Diese winzige Bewegung gibt die Blockiervorrichtung frei, und der Wecker kann ablaufen.

(Bild aus: [1])
Die Form der Nocken sorgt dafür, dass das Stundenrad beim Weiterdrehen die Blockiervorrichtung allmählich wieder in ihren blockierten Zustand zurückdrückt. Deswegen kann man die Weckzeit stets nur gegen den Uhrzeigersinn verstellen, und deswegen wird der Weckzeiger beim Stellen der Uhr gegen den Uhrzeigersinn über die Weckzeit hinaus, mitgenommen.
Und so sieht das alles im Kontext einer einzigen Uhr aus:

(Bild aus: [1])
*
Soviel zur Technik. Gestattet mir ein paar Sätze zur Geschichte des verbauten Kalibers Poljot 2612. Ich las bei Horlbeck, das Kaliber AS 1475 der Firma Adolph Schild sei das mit Abstand meistgebaute Armbandweckerkaliber der Welt - allein das 1475 wurde zwischen 1954 und 1970 über 780.000-mal gebaut. Wie kam es also dazu, dass dieses erfolgreiche Werk in der Sowjetunion nachgebaut und sogar in den Westen exportiert wurde?
Das Reformklima nach dem Ende der Stalin-Ära, welches auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Frühjahr 1956 eingeleitet worden war, öffnete der politischen Führung der Sowjetunion die Augen für bestimmte Realitäten: nicht nur war man durch die einseitige Förderung der Schwerindustrie auf zahlreichen Gebieten der Kultur und Technik seit dem Ende des zweiten Weltkriegs weit hinter den Klassenfeind zurückgefallen, auch die eigene Bevölkerung begehrte gegen den von oben verordneten Mangel auf. Das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich von seiner Hände Arbeit auch etwas leisten zu können, brach sich in mehr oder weniger laut murrend geäußertem Unmut Bahn. All dem trug die im Herbst 1956 verkündete Änderung des 6. Fünfjahresplanes Rechnung - dem verklausulierten Eingeständnis, mit der bedingungslosen Förderung der (Schwer-) Industrie einen Irrweg beschritten zu haben und zumindest einen erheblichen Teil der volkswirtschaftlichen Ressourcen nun dem Konsum zur Verfügung stellen zu wollen, folgte die Neuverkündung großer Teile des Planes, eine - damals recht wenig beachtete - Sensation! (DER SPIEGEL*4/1957 - Die Blöße)
In dieser Situation realisierte die sowjetische Führung, dass es eine Gruppe von Luxusgegenständen gab, die nicht nur das Bedürfnis der eigenen Bevölkerung nach etwas Glanz an der eigenen Person zu decken vermochte, sondern auch der Erwirtschaftung dringend benötigter Devisen dienen konnte - Armbanduhren. Nun produzierten russische Uhrenfabriken zu dieser Zeit zwar schon Uhren. Weil sie aber bei der Zuteilung von Arbeitskraft und Material eher stiefmütterlich behandelt wurden, waren ihre Erzeugnisse im Grunde veraltet und ihre Qualität ... nun, sagen wir mal: schwankend. Um möglichst rasch die technologischen Lücken schließen zu können, die auch auf diesem Gebiet klafften, entsandte man Emissäre in die Schweiz, um dort Zeichnungen und Maschinen für die Fertigung moderner Uhrwerke zu erwerben.
So entsann man sich bei der Ersten Moskauer Uhrenfabrik der alten Freundschaft mit der Firma Adolph Schild, die ihr kurz vor dem zweiten Weltkrieg ein Jahr lang "Starthilfe" gegeben hatte. Da traf es sich gut, dass AS gerade das Kaliber 1475 überarbeitete - man überließ der sowjetischen Delegation Lizenzen und Pläne für die ausgemusterte Urversion dieses Kalibers und sogar Maschinen, mit deren Hilfe es hergestellt werden konnte.
Den sowjetischen Ingenieuren war klar, dass das Kaliber für ihre Fertigungsbedingungen, vor allem aber für die Bedingungen, denen es im Betrieb standhalten sollte, abgeändert werden musste. So blieb es in Form und Ausführung zwar weitgehend gleich, aber seine Größe nahm um fast einen Millimeter zu, ein achtzehnter Lagerstein wurde eingefügt, der zifferblattseitig die Lagerung des Weckerhammers übernimmt, und die filigrane Unruh des aktuellen AS 1475 wich einer soliden, vergoldeten Schraubenunruh. Auch sonst gaben die Ingenieure fast überall "etwas Material zu", die russische Methode eben, um Ausfallsicherheit trotz vernachlässigter Wartung zu gewährleisten.
So entstand ein sehr robustes, sehr zuverlässiges mechanisches Armbandweckerwerk, das mit nur kleinen Änderungen bis heute gebaut wird.
*
In der Geschichte der Horologie wurde vieles ausprobiert und wieder verworfen. Wer, wie ich, unter einem eher uhrentechnischen Blickwinkel sammelt, stößt zwangsläufig auf jene dünnen Triebe, die am großen Stamm der Uhrengeschichte entstanden sind und mehr oder weniger erfolgreiche Ableger gebildet haben. Zu diesen zählen bestimmte Werktypen (elektromechanische Werke, Stimmgabelwerke) und eben auch bestimmte Komplikationen. Hier finden sich bspw. Chronographen und Uhren mit Datumsanzeige, aber eben auch Kuriositäten wie Mondphasenanzeigen und Anzeigen für den Tidenhub. Der Armbandwecker gehört ebenfalls hier hin - wobei es dem geneigten Leser überlassen bleiben muss, ob er ihn als ernstzunehmende und wertsteigernde Zusatzausstattung einer Armbanduhr ansieht, oder eben doch nur als eine weitere Kuriosität.
Für mich gehören Armbandwecker zur ersten Kategorie. So besitze ich bereits eine Cordura Signal, der ich bei Gelegenheit auch noch eine passende Vorstellung gönnen werde. Vor einigen Wochen war schon mal eine Poljot in der Bucht getrieben, aber ich hatte die Auktion verpasst. Zu meinem Glück, möchte ich sagen, denn diese hier ...

... ist nicht nur in besserem Zustand, sie kommt sogar in ihrer Originalverpackung, war günstiger zu haben und ist vor allem eines: wunderschön!

Das Gesicht der Uhr wird von dem silbernen, sonnengeschliffenen Zifferblatt mit seinem roten Rand bestimmt, auf dem eine ausgesprochen feindetaillierte Minuterie zu sehen ist. Zeiger und Indizes schimmern im warmen Goldton des Gehäuses, der schwarze Zentralsekundenzeiger nimmt die Farbe der sonstigen Markierungen auf dem Blatt auf.

Ebenfalls schwarz ist der Einstellzeiger für die Weckzeit. Er wird mit der Krone auf zwei Uhr verstellt (in gezogener Position), und zwar gegen den Uhrzeigersinn. In eingedrückter Position zieht man die Feder des Weckwerkes auf, und in dieser Position ist der Wecker auch "an". Ein Vollaufzug (der gefühlt drei Minuten beansprucht) lässt den Wecker 15 Sekunden lang "läuten", wobei das Geräusch eher an eine jener Ratschen erinnert, mit denen viele Fußballfans am Wochenende in die Stadien pilgern.
Der Weckzeiger zeigt auf einen eigenen Stundenring, der Unterteilungen in Viertelstunden vorsieht.
Das Werk macht sich in dem Kissengehäuse mittlerer Größe recht flach.

Dies ist Segen und Fluch zugleich - ein Segen, weil die Uhr wenig aufträgt und somit im Grunde zu allem getragen werden kann, ein Fluch, weil die Anordnung der Kronen den stolzen Besitzer der Uhr beim Aufziehen stört: bei beiden Kronen kollidiert der Zeigefinger mit dem jeweiligen rechten Bandanstoß - eine unkomfortable Angelegenheit, denn das Gehäuse besitzt noch alle seine Kanten.

Der Rückdeckel der Poljot ist verschraubt. Dabei haben sich die Ingenieure etwas Besonderes ausgedacht. Weil von innen ein Ring auf den Deckel aufgeschweißt ist, gegen den der Hammer schlagen soll, ...

...muss der Deckel in einer ganz bestimmten Stellung montiert werden. Dem dienen einmal die vier "Ohren" am Deckelrand, die in entsprechenden Aussparungen des Gehäuses zu liegen kommen. Weil sich diese Konstruktion nicht mehr drehen lässt, wird der Deckel von einem Schraubring

gegen das Gehäuse gepresst. Zugleich wird so die Uhr abgedichtet.
Kein sensationeller Anblick, aber doch sauber gelöst:

Unter dem Deckel findet sich das Poljot 2612, wie gesagt, in der ursprünglichen Ausführung mit Schraubenunruh. (Das 2612.1 hat eine schraubenlose Unruh.)

Sehr schön zu erkennen: Sternrad und Lager des Schlägers:

Dadurch, dass die Uhr recht flach ist, wirkt sie größer als sie mit ihren 37 x 42 mm tatsächlich ist:

Kommen wir zum letzten Punkt: wie alt ist die Uhr wirklich? Das 2612 wurde bis 1990 gebaut, ehe es vom 2612.1 abgelöst wurde. Die Machart der Uhr plaziert sie freilich in eine wesentlich frühere Periode, eventuell in die frühen Siebzigerjahre, ebenso wie die Werknummer (Horlbeck zeigt eine aus den späten Sechzigern mit einer Werknummer "4xxxxx", die Werknummer meiner Uhr beginnt mit "3" und es steht zu vermuten, dass zumindest das verbaute Werk noch älter ist.) Mangels Papieren kann ich aber nur Vermutungen anstellen, denn ihr Zustand spricht nicht für eine mehr als vierzig Jahre alte Uhr (es sei denn, sie hat ihr Leben in einer Schublade zugebracht.) Ich halte es für denkbar, dass sie in den Neunzigerjahren mit neuer (inzwischen aber ebenfalls fast erloschener) Leuchtmasse versehen und in ein neues Gehäuse eingeschalt wurde. Vielleicht weiß ja einer der Freunde russischer Uhren etwas mehr über die Zustände in der Ersten Moskauer Uhrenfabrik
Vielen Dank für Euer Interesse!
Viele Grüße
Tomcat
Quellen:
[1] Michael Philip Horlbeck, "Der Armbandwecker", Heel-Verlag, Königswinter 2001
[2] Wikipedia
[3] Der Spiegel Online Archiv
Denn eigentlich weiß ich gar nicht, wo meine Abneigung gegen russische Armbanduhren herrührt - vielleicht, weil meine Mutter, die in der sowjetischen Besatzungszone herangewachsen war, sich noch an das "Zappzarapp" der russischen Soldaten erinnerte, wenn sie jemanden mit einer Armbanduhr sahen. Vielleicht auch, weil ich im zarten Alter von vierzehn Jahren beim Besuch meiner Großmutter in der damaligen DDR mal eine gut laufende Timex gegen irgendeine schnarrende Russenzwiebel mit zwei Kronen eingetauscht habe, deren Glas alsbald herausfiel und die auch sonst ziemlich schnell ein Fall für die Tonne war. Vielleicht auch, weil russische Technik im Ruche stand, sehr primitiv zu sein (wenn auch sehr robust.) Und ziemlich sicher, weil ich mich an den fabrikneuen Poljot-Flieger-Chronographen mit (russischen) Papieren erinnere, den mir ein fliegender Händler 1990 am Brandenburger Tor für zehn Mark veräußerte (und der, ich muss es zugeben, immer noch läuft, wenn auch ziemlich schlecht.)
Mit einem Wort: ich mochte russische Uhren nicht.
Aber ich habe nun mal angefangen, Armbandwecker zu sammeln, und wenn interessante Technik auch noch so schön verpackt daherkommt wie dieser Poljot Armbandwecker, dann fällt es mir sehr schwer, stark zu bleiben:

Außerdem ändern nur Narren und Esel ihre Meinung nicht, und es sind hier im Forum schon viele russische Uhren vorgestellt worden, deren Aussehen keinen Vergleich mit irgendeiner West-Uhr zu scheuen braucht. Also begann ich umzudenken.
*
Michael Philip Horlbeck, Autor zahlreicher Uhrenbücher, bezeichnet im Untertitel seines Standardwerkes über Armbandwecker diese in milder Untertreibung als "unterschätzte Komplikation". In der Tat stehen sie im Schatten ihrer viel glamouröseren Schwestern - Chronographen etwa, Mondphasenuhren oder Uhren mit prominenter Datumsanzeige, womöglich gar noch mit Angabe des Wochentages und einer Anzeige, ob es Tag oder Nacht ist. All jene Komplikationen zeichnet aus, dass sie sichtbar sind - sie prägen häufig die Gesichter der Uhren, die mit ihnen ausgestattet sind, und zieren sie in der Regel.
Ganz anders der Wecker - abgesehen von einem weiteren Zeiger, der auf die Weckzeit weist, ...

... und häufig einer weiteren Krone, die den Aufzug und das Stellen des Weckers bewerkstelligt, ...

... weist wenig auf die Weckerkomplikation hin.
Andererseits gibt es kaum eine Komplikation mit größerem praktischem Nutzen: Chronographen werden heute vielleicht mal zum Eierkochen benutzt, oder wenn man aus Langeweile die Geschwindigkeit des Fahrzeugs stoppen möchte, mit dem man unterwegs ist, das Datum (und den Wochentag) kann man bequem am Wandkalender ablesen, und wohl nur Hobby-Astronomen werden wirklich Interesse an der aktuellen Mondphase haben - aber die wissen so etwas eh aus dem Eff-eff. Einen Wecker hingegen kann man immer gebrauchen - um morgens pünktlich aufzuwachen, auch wenn man auf Reisen ist, ohne sich auf einen möglicherweise nachlässigen Weckdienst verlassen zu müssen, oder um einen Termin nicht zu vergessen oder die Einnahme wichtiger Medikamente. Es ist mit zahlreichen Reiseweckern in allen möglichen Klapp-Etuis versucht worden, diesem Bedürfnis des Reisenden Rechnung zu tragen, aber so konsequent wie mit dem Armbandwecker ist es weder vorher noch seitdem befriedigt worden.
Was klingt wie ein Werbetext für einen der Armbandwecker aus der Blütezeit dieser Komplikation - den Fünfziger- und Sechzigerjahren - soll ein wenig Rückbesinnung auf dieses goldene Zeitalter des Uhrenbaus erlauben, als wir nicht nur Uhren hatten, sondern auch Zeit. Heute nutzen wir elektronische Helferlein für alle möglichen Zwecke, aber es wird zunehmend unklar, ob uns ihr Einsatz wirklich frommt, oder ob wir nicht vielmehr ihre Sklaven geworden sind - permanent erreichbar, stets in Eile, gequält von Magengeschwüren und der Angst, etwas zu verpassen.
Vor diesem Hintergrund wächst ein neues, zartes Pflänzchen in meiner Uhrensammlung heran - Armbandwecker. Im Folgenden möchte ich Euch meine neueste Errungenschaft zeigen, die mich selbst auf's höchste überrascht hat, aber davon gleich mehr.

Zunächst möchte ich, wie üblich, ein paar Worte zur Technik verlieren. Ein Wecker zeichnet sich dadurch aus, dass er zwei Uhrwerke besitzt: zum Einen das übliche Uhrwerk, das den Antrieb der Zeiger besorgt, zum Anderen das Weckwerk, dessen Aufgabe darin besteht, einen Hammer gegen ein Läuteorgan zu schlagen. Bei unseren Nachttischweckern ...

Quelle: Wikipedia
... besteht dieses aus einer oder zwei mehr oder weniger prominenten Glocken, aber in Armbandweckern steht dafür kein Platz zur Verfügung. Deshalb benutzen ihre Designer entweder den Gehäuseboden selbst oder einen eigenen Resonanzboden, was den Vorteil hat, dass die Lautstärke des Signals nicht gedämpft wird, wenn man die Uhr trägt. Beide Lösungen haben den Nachteil, dass der Schwingkörper nicht frei schwingen kann. Mehr als ein mehr oder weniger lautes Schnarren bringen sie daher nicht zustande. Einige wenige Armbandwecker benutzen deswegen eine frei schwingende Tonfeder oder eine flache Glocke, auf der der Hammer ein glockenartiges Geräusch erzeugen kann.

(Bild aus: [1])
Der Hammer oder "Schläger", der das Geräusch erzeugt, muss in eine hin- und herschwingende Bewegung versetzt werden. Diesem Zweck dient das Sternrad, das in seiner Funktion etwa dem Hemmungsrad des Uhrwerkes entspricht, in welches der Anker eingreift. Genau wie dort setzt das Sternrad die kreisförmige Bewegung also in die Bewegung eines "Pendels" um, an dessen Ende der Schläger sitzt.

(Bild aus: [1])
Seine Energie bezieht ein mechanisches Weckwerk aus einer Aufzugsfeder. Bei den meisten Armbandweckern ist diese in einem separaten Federhaus untergebracht, das über eine zweite Krone aufgezogen wird. Diese Lösung bietet den Vorteil, dass der Gang des eigentlichen Uhrwerks unbeeinflusst bleibt. Ihrem Hauptnachteil des größeren Platzbedarfes wichen die Designer einiger Weckerwerke dadurch aus, dass sie das Weckwerk vom (einzigen) Federhaus antreiben lassen.
Dafür, dass der Wecker nicht ständig klingelt, sorgt eine Blockiervorrichtung, die den Weckmechanismus am Ablaufen hindert: ein Hebel oder Stift wird unter Federkraft entweder in das Sternrad eingerückt oder gegen den Arm des Schlägers gedrückt. Diese Blockiervorrichtung wird zusätzlich mechanisch blockiert, wenn der Alarm "abgestellt" wird.

(Bild aus: [1])
Ein Wecker macht natürlich nur Sinn, wenn er zu einer voreingestellten Zeit weckt. Diesem Zweck gilt die Auslösevorrichtung, die Uhr- und Weckwerk miteinander verbindet. Sie besteht in der Regel aus zwei Scheiben - dem Stundenrad und dem Einstellrad für die Weckzeit. Das Stundenrad dreht sich gegen das Einstellrad, auf dem gefederte Nocken angeordnet sind. Zum Auslösezeitpunkt schnappen diese Nocken in entsprechende Aussparungen des Stundenrades ein. Diese winzige Bewegung gibt die Blockiervorrichtung frei, und der Wecker kann ablaufen.

(Bild aus: [1])
Die Form der Nocken sorgt dafür, dass das Stundenrad beim Weiterdrehen die Blockiervorrichtung allmählich wieder in ihren blockierten Zustand zurückdrückt. Deswegen kann man die Weckzeit stets nur gegen den Uhrzeigersinn verstellen, und deswegen wird der Weckzeiger beim Stellen der Uhr gegen den Uhrzeigersinn über die Weckzeit hinaus, mitgenommen.
Und so sieht das alles im Kontext einer einzigen Uhr aus:

(Bild aus: [1])
*
Soviel zur Technik. Gestattet mir ein paar Sätze zur Geschichte des verbauten Kalibers Poljot 2612. Ich las bei Horlbeck, das Kaliber AS 1475 der Firma Adolph Schild sei das mit Abstand meistgebaute Armbandweckerkaliber der Welt - allein das 1475 wurde zwischen 1954 und 1970 über 780.000-mal gebaut. Wie kam es also dazu, dass dieses erfolgreiche Werk in der Sowjetunion nachgebaut und sogar in den Westen exportiert wurde?
Das Reformklima nach dem Ende der Stalin-Ära, welches auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Frühjahr 1956 eingeleitet worden war, öffnete der politischen Führung der Sowjetunion die Augen für bestimmte Realitäten: nicht nur war man durch die einseitige Förderung der Schwerindustrie auf zahlreichen Gebieten der Kultur und Technik seit dem Ende des zweiten Weltkriegs weit hinter den Klassenfeind zurückgefallen, auch die eigene Bevölkerung begehrte gegen den von oben verordneten Mangel auf. Das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich von seiner Hände Arbeit auch etwas leisten zu können, brach sich in mehr oder weniger laut murrend geäußertem Unmut Bahn. All dem trug die im Herbst 1956 verkündete Änderung des 6. Fünfjahresplanes Rechnung - dem verklausulierten Eingeständnis, mit der bedingungslosen Förderung der (Schwer-) Industrie einen Irrweg beschritten zu haben und zumindest einen erheblichen Teil der volkswirtschaftlichen Ressourcen nun dem Konsum zur Verfügung stellen zu wollen, folgte die Neuverkündung großer Teile des Planes, eine - damals recht wenig beachtete - Sensation! (DER SPIEGEL*4/1957 - Die Blöße)
In dieser Situation realisierte die sowjetische Führung, dass es eine Gruppe von Luxusgegenständen gab, die nicht nur das Bedürfnis der eigenen Bevölkerung nach etwas Glanz an der eigenen Person zu decken vermochte, sondern auch der Erwirtschaftung dringend benötigter Devisen dienen konnte - Armbanduhren. Nun produzierten russische Uhrenfabriken zu dieser Zeit zwar schon Uhren. Weil sie aber bei der Zuteilung von Arbeitskraft und Material eher stiefmütterlich behandelt wurden, waren ihre Erzeugnisse im Grunde veraltet und ihre Qualität ... nun, sagen wir mal: schwankend. Um möglichst rasch die technologischen Lücken schließen zu können, die auch auf diesem Gebiet klafften, entsandte man Emissäre in die Schweiz, um dort Zeichnungen und Maschinen für die Fertigung moderner Uhrwerke zu erwerben.
So entsann man sich bei der Ersten Moskauer Uhrenfabrik der alten Freundschaft mit der Firma Adolph Schild, die ihr kurz vor dem zweiten Weltkrieg ein Jahr lang "Starthilfe" gegeben hatte. Da traf es sich gut, dass AS gerade das Kaliber 1475 überarbeitete - man überließ der sowjetischen Delegation Lizenzen und Pläne für die ausgemusterte Urversion dieses Kalibers und sogar Maschinen, mit deren Hilfe es hergestellt werden konnte.
Den sowjetischen Ingenieuren war klar, dass das Kaliber für ihre Fertigungsbedingungen, vor allem aber für die Bedingungen, denen es im Betrieb standhalten sollte, abgeändert werden musste. So blieb es in Form und Ausführung zwar weitgehend gleich, aber seine Größe nahm um fast einen Millimeter zu, ein achtzehnter Lagerstein wurde eingefügt, der zifferblattseitig die Lagerung des Weckerhammers übernimmt, und die filigrane Unruh des aktuellen AS 1475 wich einer soliden, vergoldeten Schraubenunruh. Auch sonst gaben die Ingenieure fast überall "etwas Material zu", die russische Methode eben, um Ausfallsicherheit trotz vernachlässigter Wartung zu gewährleisten.
So entstand ein sehr robustes, sehr zuverlässiges mechanisches Armbandweckerwerk, das mit nur kleinen Änderungen bis heute gebaut wird.
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In der Geschichte der Horologie wurde vieles ausprobiert und wieder verworfen. Wer, wie ich, unter einem eher uhrentechnischen Blickwinkel sammelt, stößt zwangsläufig auf jene dünnen Triebe, die am großen Stamm der Uhrengeschichte entstanden sind und mehr oder weniger erfolgreiche Ableger gebildet haben. Zu diesen zählen bestimmte Werktypen (elektromechanische Werke, Stimmgabelwerke) und eben auch bestimmte Komplikationen. Hier finden sich bspw. Chronographen und Uhren mit Datumsanzeige, aber eben auch Kuriositäten wie Mondphasenanzeigen und Anzeigen für den Tidenhub. Der Armbandwecker gehört ebenfalls hier hin - wobei es dem geneigten Leser überlassen bleiben muss, ob er ihn als ernstzunehmende und wertsteigernde Zusatzausstattung einer Armbanduhr ansieht, oder eben doch nur als eine weitere Kuriosität.
Für mich gehören Armbandwecker zur ersten Kategorie. So besitze ich bereits eine Cordura Signal, der ich bei Gelegenheit auch noch eine passende Vorstellung gönnen werde. Vor einigen Wochen war schon mal eine Poljot in der Bucht getrieben, aber ich hatte die Auktion verpasst. Zu meinem Glück, möchte ich sagen, denn diese hier ...

... ist nicht nur in besserem Zustand, sie kommt sogar in ihrer Originalverpackung, war günstiger zu haben und ist vor allem eines: wunderschön!

Das Gesicht der Uhr wird von dem silbernen, sonnengeschliffenen Zifferblatt mit seinem roten Rand bestimmt, auf dem eine ausgesprochen feindetaillierte Minuterie zu sehen ist. Zeiger und Indizes schimmern im warmen Goldton des Gehäuses, der schwarze Zentralsekundenzeiger nimmt die Farbe der sonstigen Markierungen auf dem Blatt auf.

Ebenfalls schwarz ist der Einstellzeiger für die Weckzeit. Er wird mit der Krone auf zwei Uhr verstellt (in gezogener Position), und zwar gegen den Uhrzeigersinn. In eingedrückter Position zieht man die Feder des Weckwerkes auf, und in dieser Position ist der Wecker auch "an". Ein Vollaufzug (der gefühlt drei Minuten beansprucht) lässt den Wecker 15 Sekunden lang "läuten", wobei das Geräusch eher an eine jener Ratschen erinnert, mit denen viele Fußballfans am Wochenende in die Stadien pilgern.
Der Weckzeiger zeigt auf einen eigenen Stundenring, der Unterteilungen in Viertelstunden vorsieht.
Das Werk macht sich in dem Kissengehäuse mittlerer Größe recht flach.

Dies ist Segen und Fluch zugleich - ein Segen, weil die Uhr wenig aufträgt und somit im Grunde zu allem getragen werden kann, ein Fluch, weil die Anordnung der Kronen den stolzen Besitzer der Uhr beim Aufziehen stört: bei beiden Kronen kollidiert der Zeigefinger mit dem jeweiligen rechten Bandanstoß - eine unkomfortable Angelegenheit, denn das Gehäuse besitzt noch alle seine Kanten.

Der Rückdeckel der Poljot ist verschraubt. Dabei haben sich die Ingenieure etwas Besonderes ausgedacht. Weil von innen ein Ring auf den Deckel aufgeschweißt ist, gegen den der Hammer schlagen soll, ...

...muss der Deckel in einer ganz bestimmten Stellung montiert werden. Dem dienen einmal die vier "Ohren" am Deckelrand, die in entsprechenden Aussparungen des Gehäuses zu liegen kommen. Weil sich diese Konstruktion nicht mehr drehen lässt, wird der Deckel von einem Schraubring

gegen das Gehäuse gepresst. Zugleich wird so die Uhr abgedichtet.
Kein sensationeller Anblick, aber doch sauber gelöst:

Unter dem Deckel findet sich das Poljot 2612, wie gesagt, in der ursprünglichen Ausführung mit Schraubenunruh. (Das 2612.1 hat eine schraubenlose Unruh.)

Sehr schön zu erkennen: Sternrad und Lager des Schlägers:

Dadurch, dass die Uhr recht flach ist, wirkt sie größer als sie mit ihren 37 x 42 mm tatsächlich ist:

Kommen wir zum letzten Punkt: wie alt ist die Uhr wirklich? Das 2612 wurde bis 1990 gebaut, ehe es vom 2612.1 abgelöst wurde. Die Machart der Uhr plaziert sie freilich in eine wesentlich frühere Periode, eventuell in die frühen Siebzigerjahre, ebenso wie die Werknummer (Horlbeck zeigt eine aus den späten Sechzigern mit einer Werknummer "4xxxxx", die Werknummer meiner Uhr beginnt mit "3" und es steht zu vermuten, dass zumindest das verbaute Werk noch älter ist.) Mangels Papieren kann ich aber nur Vermutungen anstellen, denn ihr Zustand spricht nicht für eine mehr als vierzig Jahre alte Uhr (es sei denn, sie hat ihr Leben in einer Schublade zugebracht.) Ich halte es für denkbar, dass sie in den Neunzigerjahren mit neuer (inzwischen aber ebenfalls fast erloschener) Leuchtmasse versehen und in ein neues Gehäuse eingeschalt wurde. Vielleicht weiß ja einer der Freunde russischer Uhren etwas mehr über die Zustände in der Ersten Moskauer Uhrenfabrik

Vielen Dank für Euer Interesse!
Viele Grüße
Tomcat
Quellen:
[1] Michael Philip Horlbeck, "Der Armbandwecker", Heel-Verlag, Königswinter 2001
[2] Wikipedia
[3] Der Spiegel Online Archiv
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