
Welcher Taschenuhren-Freund kennt sie nicht, die sogenannten „Railroad Watches“, die Uhren mit den übergroßen Ziffern und den markanten Zeigern für beste Ablesbarkeit. Die Railroad Watch war ein Synonym für Akkuratesse und Zuverlässigkeit und, nicht selten, eine Art Lebensversicherung für Zugreisende.
Foto oben: Illinois Bunn 18-size, 21 Jewels
Den Eisenbahnern dienten diese präzisen Zeitmesser als unentbehrliche Arbeitsgeräte, der US-amerikanischen Uhrenindustrie als gewinnbringende Umsatzträger, denn genau gehende Uhren waren natürlich auch beim Konsumenten beliebt und begehrt.
Doch, was genau ist eine Railroad Watch? Nach welchen Kriterien wurden die Spezifikationen für eine solche Uhr definiert? Hierfür möchte ich zunächst etwas tiefer in die Historie der nordamerikanischen Eisenbahnen eintauchen.
Kapitel 1 - Einführung der „Standard Zeit“
Während seiner Tätigkeit als Chef-Ingenieur und Landvermesser bei der „Canadian Pacific Railway“ schlug der aus Schottland stammende Sir Sandford Fleming im Februar 1879 vor, eine weltweite „Standard Zeit“ für den Eisenbahnverkehr einzuführen. Davor war es üblich, dass jede Stadt, jeder Bahnhof eine „eigene Standard Zeit“ verwendete, also deren Ortszeit, basierend auf den lokalen Sonnenauf und -untergängen.
Foto oben: Sir Sandford Fleming bei der feierlichen Fertigstellung einer Bahnstrecke („The Last Spike“) ca. 1884. (Im Bild der Mann mit dem längsten Hut)
Fuhr zum Beispiel ein Zug von Halifax nach Toronto, durchquerten die Reisenden 5 verschiedene Zeitzonen. Fleming war Förderer der „24-Stunden-Zählung“ sowie der „Weltzeit“, der Einteilung der Erde in 24 Zeitzonen. Seine Initiative führte zur Washingtoner Meridiankonferenz im Jahre 1884. Man einigte sich auf den Meridian durch Greenwich als Nullmeridian und auf die Greenwich Mean Time (GMT) als erste allgemein gültige Weltzeit. Die GMT ist die durch astronomische Messungen bestimmte mittlere Ortszeit des durch die Sternwarte von Greenwich führenden Meridians.
Die folgende Einteilung der Erde in 24 Zeitzonen hatte nun den Vorteil, dass dadurch die vorher angewendete große Zahl von Ortszeiten wenigstens auf praktisch 24 Ortszeiten verringert wurde.
Kapitel 2 - Timetable and Train Order
Foto oben: Gleisbau in den USA um die Jahrhundertwende.
In der Anfangszeit des Schienenbetriebes gab es Eisenbahnen, die versuchten, ohne Sicherungssysteme auszukommen. Der Eisenbahnbetrieb wurde analog zum damaligen Straßenverkehr gesehen: Die Lokomotivführer fuhren auf Sicht und sollten sich im Bedarfsfall darüber verständigen, wer bei eingleisigen Strecken gegebenenfalls seinen Zug in ein Ausweichgleis zu fahren hatte.
Da Züge aufgrund ihrer reibungsärmeren Fahrbahn und der größeren Masse gegenüber Straßenfahrzeugen viel träger zu bremsen waren, führte das bald zu Unfällen. Deshalb kamen Signale zum Einsatz. Die erste Eisenbahngesellschaft, die diese einführte, war die Liverpool and Manchester Railway in Großbritannien. Am Anfang waren das tagsüber farbige Flaggen und in der Dunkelheit entsprechende Laternen. Außerdem wurden die Lokomotiven bald mit Dampfpfeifen ausgerüstet. Die Flaggen wurden später durch mechanische Eisenbahnsignale ersetzt, in Form von beweglichen Tafeln oder Flügeln.
In Deutschland wurde in den 1840er Jahren der sogenannte „Zeigertelegraf“ von Werner von Siemens serienreif entwickelt und kam ab 1848 auf der damals längsten europäischen Telegrafenlinie von Berlin nach Frankfurt am Main zum Einsatz. Das Gerät basiert auf einem Zeiger, der manuell eingestellt wird. Eine Verstellung des Zeigers bei dem sendenden Apparat führt zu einer entsprechenden Verstellung des Zeigers bei dem empfangenden Gerät. So konnten unkompliziert die einzelnen Buchstaben eines Textes übermittelt werden, ohne diese beispielsweise erst ins Morsealphabet codieren zu müssen.
Mit dem Zeigertelegrafen wurde die Kommunikationstechnik revolutioniert. Jetzt war es erstmals auch ungeschulten Laien möglich, Textbotschaften zu übermitteln. Die Nachricht von der Verspätung eines Zuges konnte so an den nächsten Bahnhof telegrafiert werden.
Auch die Aufstellung und Einhaltung eines Fahrplanes versprach einen wesentlich sichereren Betrieb. Bald jedoch stellte sich heraus, dass auch dieses Verfahren zu Unfällen führte, da jede größere Verspätung oder technische Störung die Gefahr eines Zusammenstoßes in sich barg.
Foto oben: Central Pacific No. 27
In Amerika wurde das Fahren im Zeitabstand daraufhin verfeinert. Beim so genannten „Timetable-and-Train-Order“-Verfahren darf ein Zug erst nach einer bestimmten Pufferzeit dem vorausgefahrenen Zug folgen. Diese Pufferzeit ist so groß (etwa 10 min), dass das Personal des vorausgefahrenen Zuges genügend Zeit hat, im Störungsfall den Folgezug zu warnen.
Das Warnen erfolgte durch ins Gleis geworfene brennende Leuchtkugeln bei verlangsamter Fahrt oder durch einen Flaggenmann und Knallkapseln, wenn ein Zug liegengeblieben war. Bei diesem Verfahren musste der letzte Wagen eines jeden Zuges mit Personal besetzt sein. Für Sonderzüge oder bei Verspätungen gab es ein kompliziertes Regelwerk, um außerplanmäßige Zugfahrten zu ermöglichen.
Nun, alle diese technischen Errungenschaften sind jedoch von einer äußerst wichtigen Komponente abhängig: Der Zeit. Und zwar der genauen Zeit!
Kapitel 3 - Der Eisenbahnunfall von Kipton
Der Eisenbahnunfall von Kipton war der Frontalzusammenstoß des Toledo-Express und des Postzuges Nr. 14 der Lake Shore and Michigan Southern Railroad in Kipton, Ohio, am 18. April 1891. Neun Menschen starben. In der Folge des Unfalls wurde die Uhrzeit bei den US-Amerikanischen Eisenbahnen weiter standardisiert.
Die Ausgangslage
Der Bahnhof von Kipton lag an der eingleisigen Strecke der Toledo, Norwalk and Cleveland Railroad, deren Zugsicherung durch Timetable and Train Order, eine spezielle Form des Fahrens im Zeitabstand, gesichert wurde. (siehe oben) Die Strecke wurde 1975 stillgelegt.
Der Toledo-Express führte fünf Personen- und zwei Gepäckwagen, der Postzug drei mit Personal besetzte Bahnpostwagen und zwei Salonwagen. Die Fahrzeuge hatten – das war damals üblich – hölzerne Aufbauten, die bei einer Kollision wenig Schutz boten.
Der Toledo-Express und der Postzugzug waren auf der Strecke in entgegengesetzter Fahrtrichtung aufeinander zu unterwegs. Die Lokomotivführer konnten sich erst relativ spät sehen, da Güterwagen und das Empfangsgebäude des Bahnhofs selbst die Sicht behinderten. Aufgrund der Fahrzeiten der Züge entschied das Lokomotivpersonal, wo eine Zugkreuzung stattfinden sollte. Das war aufgrund der Durchfahrtszeit des ersten passierenden Zuges im Bahnhof Kipton zu entscheiden. Der Lokomotivführer las die Uhrzeit dafür auf seiner Taschenuhr ab.
Der Unfallhergang
Aufgrund der auf seiner Taschenuhr abgelesenen Zeit entschied der Lokomotivführer des Toledo-Express, dass er bis zur nächsten Kreuzungsstelle weiter fahren könne. Allerdings ging seine Uhr, was er nicht wusste, um vier Minuten nach. Das führte dazu, dass die beiden Züge noch im Bahnhof Kipton frontal zusammen stießen. Zwei der Bahnpostwagen zersplitterten bei dem Aufprall vollständig, der dritte kippte um und wurde gegen das Empfangsgebäude geschleudert. Das Bruchstück einer der kollidierenden Lokomotiven durchschlug das Dach des benachbarten Bahnbetriebswerks. Die Lokomotive des Postzugs lag nach dem Unfall auf der des Personenzugs. Neun Menschen starben, davon sechs Mitarbeiter der Post und der Lokomotivführer sowie der Heizer auf einer der Lokomotiven. Der Sachschaden war erheblich.
Fotos oben: Das Eisenbahnunglück von Kipton im April 1891
Kipton und die Folgen
In der Folge wurde ein striktes Kontrollsystem für alle im Eisenbahnbetrieb verwendeten Uhren eingeführt: Sie mussten eine Genauigkeit aufweisen, die innerhalb einer Woche bei einer Abweichung von weniger als 30 Sekunden lag. Jede dieser Uhren benötigte ein entsprechendes Zertifikat, das alle sechs Monate zu erneuern war. Reisende Inspektoren überwachten die Einhaltung der Regeln monatlich. Die Träger der Uhren waren verpflichtet, sie immer bei sich zu tragen und so aufzubewahren, dass äußere Einflüsse, etwa Temperaturschwankungen, die den Lauf der Uhren beeinflussen konnten, ausgeschlossen waren.
Das amerikanische Eisenbahnamt beauftragte den Uhrmacher Webster Clay Ball als „Chief Time Inspector“, zuverlässige Kontrollsysteme und Qualitätsstandards für im Eisenbahnbetrieb eingesetzte Uhren zu entwickeln. Ab 1892 produzierte die Hamilton Watch Company solch präzis laufende „Eisenbahner-Uhren“ die „Ball Railroad Watch“.
Kapitel 4 - Der Railroad Qualitäts-Standard für Taschenuhren im Eisenbahnbetrieb
Die von Webster Clay Ball erdachten Qualitätsstandards wurden zunächst nicht von allen Herstellern konsequent umgesetzt. So wurden anfangs Uhrwerke mit 15 Lagersteinen als „ausreichend ganggenau“ angesehen. Die Dueber-Hampden Watch Co. stellte 1891 eine neue Uhrenserie in der Größe 18-size mit 17 Jewels als „Railroad Standard Watch“ vor, während die Illinois Watch Company Ende 1891 eine 16-steinige „Bunn“ als die „höchste Entwicklungsstufe Ihrer Produktion einführte.
Ungefähr zur selben Zeit brachte die von Dietrich Gruen 1874 in Ohio gegründete Columbus Watch Company ihr neues High Grade Model „Railway King“ auf den Markt, ebenfalls mit 16 Lagersteinen ausgestattet. Später sollten es sogar derer 25 werden. Die Columbus Watch Co. ging 1894 in Konkurs.
Die „15-Jewel-Standard Watch“ fand bei vielen US-Eisenbahngesellschaften noch für einige Zeit Akzeptanz. Doch das Streben nach höherer Ganggenauigkeit und größtmöglicher Zuverlässigkeit im Eisenbahnbetrieb erforderte immer bessere Uhrwerke. Der im Bundesstaat Massachusetts ansässige Uhrenhersteller Waltham wertete seine inzwischen beinahe unverkäuflichen 15-steinigen Werke auf, indem nachträglich obere und untere „Center Jewels“ eingesetzt wurden. Die Platinen wurden dann neu graviert, um die Uhren als 17-steinig auszuweisen.
Das 20. Jahrhundert
In der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts verloren dann auch die 17-steinigen Uhrwerke immer mehr an Bedeutung und 21 Juwelen avancierten zum neuen „Railway Standard“.
Auch die Uhrengehäuse wurden einem Wandel unterzogen. Obwohl die stattlichen Cases für die gängigen 18-size-Werke immer noch weite Verbreitung fanden, erschienen auf dem Markt Gehäuse für 16-size-Werke in signifikanten Mengen. Diese Uhren waren kleiner und handlicher als ihre 18-size Pendants. Außerdem geringfügig leichter. Die Ablesbarkeit war dennoch sehr gut und somit fand auch diese neue Größe bald Verwendung bei den Eisenbahnern.
Insbesondere das Hamilton 992 16-size war äußerst erfolgreich und verkaufte sich in wenigen Jahren über 100.000 mal! Fortan wurden die 16-size Standard Watches von zahlreichen Herstellern produziert und erfolgreich vermarktet. In den 1920er Jahren kamen die großen Uhrwerke und Gehäuse mehr und mehr aus der Mode, in den 30ern waren sie fast vollständig vom Markt verschwunden.
Endlich: Standard Anforderungen für Taschenuhren für den Eisenbahnbetrieb
Nach dem jahrelangen hickhack um die Anzahl der Lagersteine und der für die Eisenbahner geeigneten Gehäusegröße war es 1908 dann endlich soweit: die amerikanische Uhrenindustrie hatte sich mit den Eisenbahngesellschaften auf einheitliche Standards für die Herstellung von Railroad Watches geeinigt! Diese sahen nun folgendermaßen aus:
Punkt 1) Es durften nur Uhren verwendet werden, die in den USA hergestellt wurden.
Punkt 2) Zulässige Gehäusegrößen waren 18-size oder 16-size.
Punkt 3) Ein Minimum an 17 Lagersteinen oder mehr.
Punkt 4) Die Uhrwerke mussten auch bei stärkeren Temperaturschwankungen einwandfrei funktionieren (Temperature compensated).
Punkt 5) Die Werke mussten in 5 verschiedenen Lagen einreguliert worden sein, um Lagenschwankungen durch unterschiedliche Positionen in der Westentasche entgegenzuwirken.
Punkt 6) Die Zeiteinstellung durfte nicht durch Ziehen der Aufzugskrone erfolgen, sondern durch das Herausziehen eines kleinen, seitlichen Hebels (etwa bei der Ziffer 2), um ein versehentliches Verstellen der Uhrzeit auszuschließen (Lever Set).
Punkt 7) Eine maximale Gangabweichung von +/- 30 Sekunden pro Woche (!)
Punkt 8) Doppelscheibe auf der Unruhwelle (Double Roller).
Punkt 9) Die Reglage musste patentiert sein.
Punkt 10) Das Ankerrad hatte aus Stahl zu sein.
Punkt 11) Ein Reinweißes Zifferblatt, in der Regel Emaille. (bis etwa 1910 waren auch versilberte Blätter zugelassen).
Punkt 12) Ausschließlich arabische Ziffern mit kompletter Minuterie in Form von Strichindizies. (Die Ziffern waren in der Regel extra fett zur besseren Ablesbarkeit).
Punkt 13) Es musste sich um ein „Open Face“-Gehäuse handeln. Uhren mit Sprungdeckel (Hunting Case) waren nicht erlaubt.
Punkt 14) Der Pendant mit der Aufzugswelle musste sich in der 12-Uhr-Position befinden.
Ich schließe nun meine kleine Abhandlung mit ein paar Fotos meiner eigenen Railroad Watch, einer Hamilton Grade 940 18-s mit 21 Steinen und patentiertem Goldthwait Regulator vom Februar 1906. Die meisten der oben aufgelisteten Standard-Anforderungen wurden von dieser Uhr bereits 2 Jahre zuvor erfüllt.
Ich hoffe, Ihr hattet Spaß beim Lesen. Da ich weder bei der Bahn tätig, noch Uhrmacher bin, möchte ich noch anmerken, dass meine Recherchen zum Thema nicht den Anspruch erheben, in allen Punkten korrekt zu sein. Wenn jemand etwas dazu beigetragen kann, etwaige Fehler zu korrigieren: sehr gerne!
Ich freue mich auf eine lebhafte Beteiligung! In diesem Sinne,
beste Grüße,
Frank
Wie spät ist es eigentlich? Oh, Mist, ich muss zum Bahnhof..... jetzt aber schnell......

Foto oben: Illinois Bunn 18-size, 21 Jewels
Den Eisenbahnern dienten diese präzisen Zeitmesser als unentbehrliche Arbeitsgeräte, der US-amerikanischen Uhrenindustrie als gewinnbringende Umsatzträger, denn genau gehende Uhren waren natürlich auch beim Konsumenten beliebt und begehrt.
Doch, was genau ist eine Railroad Watch? Nach welchen Kriterien wurden die Spezifikationen für eine solche Uhr definiert? Hierfür möchte ich zunächst etwas tiefer in die Historie der nordamerikanischen Eisenbahnen eintauchen.
Kapitel 1 - Einführung der „Standard Zeit“
Während seiner Tätigkeit als Chef-Ingenieur und Landvermesser bei der „Canadian Pacific Railway“ schlug der aus Schottland stammende Sir Sandford Fleming im Februar 1879 vor, eine weltweite „Standard Zeit“ für den Eisenbahnverkehr einzuführen. Davor war es üblich, dass jede Stadt, jeder Bahnhof eine „eigene Standard Zeit“ verwendete, also deren Ortszeit, basierend auf den lokalen Sonnenauf und -untergängen.

Foto oben: Sir Sandford Fleming bei der feierlichen Fertigstellung einer Bahnstrecke („The Last Spike“) ca. 1884. (Im Bild der Mann mit dem längsten Hut)
Fuhr zum Beispiel ein Zug von Halifax nach Toronto, durchquerten die Reisenden 5 verschiedene Zeitzonen. Fleming war Förderer der „24-Stunden-Zählung“ sowie der „Weltzeit“, der Einteilung der Erde in 24 Zeitzonen. Seine Initiative führte zur Washingtoner Meridiankonferenz im Jahre 1884. Man einigte sich auf den Meridian durch Greenwich als Nullmeridian und auf die Greenwich Mean Time (GMT) als erste allgemein gültige Weltzeit. Die GMT ist die durch astronomische Messungen bestimmte mittlere Ortszeit des durch die Sternwarte von Greenwich führenden Meridians.
Die folgende Einteilung der Erde in 24 Zeitzonen hatte nun den Vorteil, dass dadurch die vorher angewendete große Zahl von Ortszeiten wenigstens auf praktisch 24 Ortszeiten verringert wurde.
Kapitel 2 - Timetable and Train Order

Foto oben: Gleisbau in den USA um die Jahrhundertwende.
In der Anfangszeit des Schienenbetriebes gab es Eisenbahnen, die versuchten, ohne Sicherungssysteme auszukommen. Der Eisenbahnbetrieb wurde analog zum damaligen Straßenverkehr gesehen: Die Lokomotivführer fuhren auf Sicht und sollten sich im Bedarfsfall darüber verständigen, wer bei eingleisigen Strecken gegebenenfalls seinen Zug in ein Ausweichgleis zu fahren hatte.
Da Züge aufgrund ihrer reibungsärmeren Fahrbahn und der größeren Masse gegenüber Straßenfahrzeugen viel träger zu bremsen waren, führte das bald zu Unfällen. Deshalb kamen Signale zum Einsatz. Die erste Eisenbahngesellschaft, die diese einführte, war die Liverpool and Manchester Railway in Großbritannien. Am Anfang waren das tagsüber farbige Flaggen und in der Dunkelheit entsprechende Laternen. Außerdem wurden die Lokomotiven bald mit Dampfpfeifen ausgerüstet. Die Flaggen wurden später durch mechanische Eisenbahnsignale ersetzt, in Form von beweglichen Tafeln oder Flügeln.

In Deutschland wurde in den 1840er Jahren der sogenannte „Zeigertelegraf“ von Werner von Siemens serienreif entwickelt und kam ab 1848 auf der damals längsten europäischen Telegrafenlinie von Berlin nach Frankfurt am Main zum Einsatz. Das Gerät basiert auf einem Zeiger, der manuell eingestellt wird. Eine Verstellung des Zeigers bei dem sendenden Apparat führt zu einer entsprechenden Verstellung des Zeigers bei dem empfangenden Gerät. So konnten unkompliziert die einzelnen Buchstaben eines Textes übermittelt werden, ohne diese beispielsweise erst ins Morsealphabet codieren zu müssen.

Mit dem Zeigertelegrafen wurde die Kommunikationstechnik revolutioniert. Jetzt war es erstmals auch ungeschulten Laien möglich, Textbotschaften zu übermitteln. Die Nachricht von der Verspätung eines Zuges konnte so an den nächsten Bahnhof telegrafiert werden.
Auch die Aufstellung und Einhaltung eines Fahrplanes versprach einen wesentlich sichereren Betrieb. Bald jedoch stellte sich heraus, dass auch dieses Verfahren zu Unfällen führte, da jede größere Verspätung oder technische Störung die Gefahr eines Zusammenstoßes in sich barg.

Foto oben: Central Pacific No. 27
In Amerika wurde das Fahren im Zeitabstand daraufhin verfeinert. Beim so genannten „Timetable-and-Train-Order“-Verfahren darf ein Zug erst nach einer bestimmten Pufferzeit dem vorausgefahrenen Zug folgen. Diese Pufferzeit ist so groß (etwa 10 min), dass das Personal des vorausgefahrenen Zuges genügend Zeit hat, im Störungsfall den Folgezug zu warnen.
Das Warnen erfolgte durch ins Gleis geworfene brennende Leuchtkugeln bei verlangsamter Fahrt oder durch einen Flaggenmann und Knallkapseln, wenn ein Zug liegengeblieben war. Bei diesem Verfahren musste der letzte Wagen eines jeden Zuges mit Personal besetzt sein. Für Sonderzüge oder bei Verspätungen gab es ein kompliziertes Regelwerk, um außerplanmäßige Zugfahrten zu ermöglichen.
Nun, alle diese technischen Errungenschaften sind jedoch von einer äußerst wichtigen Komponente abhängig: Der Zeit. Und zwar der genauen Zeit!
Kapitel 3 - Der Eisenbahnunfall von Kipton
Der Eisenbahnunfall von Kipton war der Frontalzusammenstoß des Toledo-Express und des Postzuges Nr. 14 der Lake Shore and Michigan Southern Railroad in Kipton, Ohio, am 18. April 1891. Neun Menschen starben. In der Folge des Unfalls wurde die Uhrzeit bei den US-Amerikanischen Eisenbahnen weiter standardisiert.
Die Ausgangslage
Der Bahnhof von Kipton lag an der eingleisigen Strecke der Toledo, Norwalk and Cleveland Railroad, deren Zugsicherung durch Timetable and Train Order, eine spezielle Form des Fahrens im Zeitabstand, gesichert wurde. (siehe oben) Die Strecke wurde 1975 stillgelegt.
Der Toledo-Express führte fünf Personen- und zwei Gepäckwagen, der Postzug drei mit Personal besetzte Bahnpostwagen und zwei Salonwagen. Die Fahrzeuge hatten – das war damals üblich – hölzerne Aufbauten, die bei einer Kollision wenig Schutz boten.
Der Toledo-Express und der Postzugzug waren auf der Strecke in entgegengesetzter Fahrtrichtung aufeinander zu unterwegs. Die Lokomotivführer konnten sich erst relativ spät sehen, da Güterwagen und das Empfangsgebäude des Bahnhofs selbst die Sicht behinderten. Aufgrund der Fahrzeiten der Züge entschied das Lokomotivpersonal, wo eine Zugkreuzung stattfinden sollte. Das war aufgrund der Durchfahrtszeit des ersten passierenden Zuges im Bahnhof Kipton zu entscheiden. Der Lokomotivführer las die Uhrzeit dafür auf seiner Taschenuhr ab.
Der Unfallhergang
Aufgrund der auf seiner Taschenuhr abgelesenen Zeit entschied der Lokomotivführer des Toledo-Express, dass er bis zur nächsten Kreuzungsstelle weiter fahren könne. Allerdings ging seine Uhr, was er nicht wusste, um vier Minuten nach. Das führte dazu, dass die beiden Züge noch im Bahnhof Kipton frontal zusammen stießen. Zwei der Bahnpostwagen zersplitterten bei dem Aufprall vollständig, der dritte kippte um und wurde gegen das Empfangsgebäude geschleudert. Das Bruchstück einer der kollidierenden Lokomotiven durchschlug das Dach des benachbarten Bahnbetriebswerks. Die Lokomotive des Postzugs lag nach dem Unfall auf der des Personenzugs. Neun Menschen starben, davon sechs Mitarbeiter der Post und der Lokomotivführer sowie der Heizer auf einer der Lokomotiven. Der Sachschaden war erheblich.


Fotos oben: Das Eisenbahnunglück von Kipton im April 1891
Kipton und die Folgen
In der Folge wurde ein striktes Kontrollsystem für alle im Eisenbahnbetrieb verwendeten Uhren eingeführt: Sie mussten eine Genauigkeit aufweisen, die innerhalb einer Woche bei einer Abweichung von weniger als 30 Sekunden lag. Jede dieser Uhren benötigte ein entsprechendes Zertifikat, das alle sechs Monate zu erneuern war. Reisende Inspektoren überwachten die Einhaltung der Regeln monatlich. Die Träger der Uhren waren verpflichtet, sie immer bei sich zu tragen und so aufzubewahren, dass äußere Einflüsse, etwa Temperaturschwankungen, die den Lauf der Uhren beeinflussen konnten, ausgeschlossen waren.

Das amerikanische Eisenbahnamt beauftragte den Uhrmacher Webster Clay Ball als „Chief Time Inspector“, zuverlässige Kontrollsysteme und Qualitätsstandards für im Eisenbahnbetrieb eingesetzte Uhren zu entwickeln. Ab 1892 produzierte die Hamilton Watch Company solch präzis laufende „Eisenbahner-Uhren“ die „Ball Railroad Watch“.


Kapitel 4 - Der Railroad Qualitäts-Standard für Taschenuhren im Eisenbahnbetrieb
Die von Webster Clay Ball erdachten Qualitätsstandards wurden zunächst nicht von allen Herstellern konsequent umgesetzt. So wurden anfangs Uhrwerke mit 15 Lagersteinen als „ausreichend ganggenau“ angesehen. Die Dueber-Hampden Watch Co. stellte 1891 eine neue Uhrenserie in der Größe 18-size mit 17 Jewels als „Railroad Standard Watch“ vor, während die Illinois Watch Company Ende 1891 eine 16-steinige „Bunn“ als die „höchste Entwicklungsstufe Ihrer Produktion einführte.

Ungefähr zur selben Zeit brachte die von Dietrich Gruen 1874 in Ohio gegründete Columbus Watch Company ihr neues High Grade Model „Railway King“ auf den Markt, ebenfalls mit 16 Lagersteinen ausgestattet. Später sollten es sogar derer 25 werden. Die Columbus Watch Co. ging 1894 in Konkurs.

Die „15-Jewel-Standard Watch“ fand bei vielen US-Eisenbahngesellschaften noch für einige Zeit Akzeptanz. Doch das Streben nach höherer Ganggenauigkeit und größtmöglicher Zuverlässigkeit im Eisenbahnbetrieb erforderte immer bessere Uhrwerke. Der im Bundesstaat Massachusetts ansässige Uhrenhersteller Waltham wertete seine inzwischen beinahe unverkäuflichen 15-steinigen Werke auf, indem nachträglich obere und untere „Center Jewels“ eingesetzt wurden. Die Platinen wurden dann neu graviert, um die Uhren als 17-steinig auszuweisen.

Das 20. Jahrhundert
In der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts verloren dann auch die 17-steinigen Uhrwerke immer mehr an Bedeutung und 21 Juwelen avancierten zum neuen „Railway Standard“.
Auch die Uhrengehäuse wurden einem Wandel unterzogen. Obwohl die stattlichen Cases für die gängigen 18-size-Werke immer noch weite Verbreitung fanden, erschienen auf dem Markt Gehäuse für 16-size-Werke in signifikanten Mengen. Diese Uhren waren kleiner und handlicher als ihre 18-size Pendants. Außerdem geringfügig leichter. Die Ablesbarkeit war dennoch sehr gut und somit fand auch diese neue Größe bald Verwendung bei den Eisenbahnern.

Insbesondere das Hamilton 992 16-size war äußerst erfolgreich und verkaufte sich in wenigen Jahren über 100.000 mal! Fortan wurden die 16-size Standard Watches von zahlreichen Herstellern produziert und erfolgreich vermarktet. In den 1920er Jahren kamen die großen Uhrwerke und Gehäuse mehr und mehr aus der Mode, in den 30ern waren sie fast vollständig vom Markt verschwunden.


Endlich: Standard Anforderungen für Taschenuhren für den Eisenbahnbetrieb
Nach dem jahrelangen hickhack um die Anzahl der Lagersteine und der für die Eisenbahner geeigneten Gehäusegröße war es 1908 dann endlich soweit: die amerikanische Uhrenindustrie hatte sich mit den Eisenbahngesellschaften auf einheitliche Standards für die Herstellung von Railroad Watches geeinigt! Diese sahen nun folgendermaßen aus:
Punkt 1) Es durften nur Uhren verwendet werden, die in den USA hergestellt wurden.
Punkt 2) Zulässige Gehäusegrößen waren 18-size oder 16-size.
Punkt 3) Ein Minimum an 17 Lagersteinen oder mehr.
Punkt 4) Die Uhrwerke mussten auch bei stärkeren Temperaturschwankungen einwandfrei funktionieren (Temperature compensated).
Punkt 5) Die Werke mussten in 5 verschiedenen Lagen einreguliert worden sein, um Lagenschwankungen durch unterschiedliche Positionen in der Westentasche entgegenzuwirken.
Punkt 6) Die Zeiteinstellung durfte nicht durch Ziehen der Aufzugskrone erfolgen, sondern durch das Herausziehen eines kleinen, seitlichen Hebels (etwa bei der Ziffer 2), um ein versehentliches Verstellen der Uhrzeit auszuschließen (Lever Set).
Punkt 7) Eine maximale Gangabweichung von +/- 30 Sekunden pro Woche (!)
Punkt 8) Doppelscheibe auf der Unruhwelle (Double Roller).
Punkt 9) Die Reglage musste patentiert sein.
Punkt 10) Das Ankerrad hatte aus Stahl zu sein.
Punkt 11) Ein Reinweißes Zifferblatt, in der Regel Emaille. (bis etwa 1910 waren auch versilberte Blätter zugelassen).
Punkt 12) Ausschließlich arabische Ziffern mit kompletter Minuterie in Form von Strichindizies. (Die Ziffern waren in der Regel extra fett zur besseren Ablesbarkeit).
Punkt 13) Es musste sich um ein „Open Face“-Gehäuse handeln. Uhren mit Sprungdeckel (Hunting Case) waren nicht erlaubt.
Punkt 14) Der Pendant mit der Aufzugswelle musste sich in der 12-Uhr-Position befinden.

Ich schließe nun meine kleine Abhandlung mit ein paar Fotos meiner eigenen Railroad Watch, einer Hamilton Grade 940 18-s mit 21 Steinen und patentiertem Goldthwait Regulator vom Februar 1906. Die meisten der oben aufgelisteten Standard-Anforderungen wurden von dieser Uhr bereits 2 Jahre zuvor erfüllt.


Ich hoffe, Ihr hattet Spaß beim Lesen. Da ich weder bei der Bahn tätig, noch Uhrmacher bin, möchte ich noch anmerken, dass meine Recherchen zum Thema nicht den Anspruch erheben, in allen Punkten korrekt zu sein. Wenn jemand etwas dazu beigetragen kann, etwaige Fehler zu korrigieren: sehr gerne!
Ich freue mich auf eine lebhafte Beteiligung! In diesem Sinne,
beste Grüße,
Frank
Wie spät ist es eigentlich? Oh, Mist, ich muss zum Bahnhof..... jetzt aber schnell......
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